Nichte Zitate (Seite 258)
Geh nicht vorüber am Erdenleid!
Das Auge offen, die Arme weit,
die Füße eilend und stark die Hand,
sei du ein Bote von Gott gesandt!
Geh nicht vorüber am Erdenleid!
Hörst du, wie einsam die Seele schreit?
Siehst du, wie heimlich die Träne rinnt?
Sei Gottes Bote und tröste lind!
Geh nicht vorüber am Erdenleid!
Das Meer der Leiden ist tief und weit,
so mancher ringt mit der dunklen Flut;
wirf ihm ein Seil zu und mach ihm Mut!
Eva von Tiele-Winckler
Ja, mancher steht und wartet in der Welt,
Und weiß nicht recht, worauf er warten soll.
Wer zuviel Freundschaft hofft, sieht selbst im Freunde
Den kalten Freund. Ach, diese Alltagswelt
Ist voll von leeren Busen, leeren Herzen,
Daß man die Liebe nicht verschleudern muß,
Um nicht in jenen schlimmsten Fall zu kommen,
Daß man um Liebe bettelt, und wie Bettler
Mit Höhnen vor die Tür gewiesen wird.
Ludwig Tieck
Friede
Über die Heide geht der Wind;
Es flüstert im Gras, es rauscht in den Bäumen.
Die dort unten erschlagen sind,
Die vielen Toten, sie schweigen und träumen.
Hören sie nicht den Glockenklang?
Dringt nicht zu ihnen aus heiligen Räumen
Halleluja und Friedenssang?
Die vielen Toten, sie schweigen und träumen.
Voll des Dankes ist alle Welt,
Sie darf mit dem Lobe des Herrn nicht säumen;
Wer im Kampfe fiel, heißt ein Held.
Die vielen Toten, sie schweigen und träumen.
Wenn die Herrscher versammelt...
Ludwig Thoma
Die Seele wird nicht satt
Ein Bürgersmann, der eine Königstochter geheiratet hatte, umgab sie mit Glanz und Herrlichkeit, jedoch vergebens: alles kam ihr gering vor, nicht der Beachtung wert, weil sie ewig ihre hohe Herkunft im Sinn hatte. So auch die Seele – mag sie der Mensch mit allen irdischen Freuden umgeben, sie wird nicht befriedigt sein, denn sie ist eine Tochter des Himmels.
Talmud
Land und Leute könnten voller Ruhe sein,
Wären nicht zwei kleine Wörter: mein und dein;
Die wirken manche Wunder auf der Erde.
Wie gehn sie rüttelnd, wie so wütend überall
Und treiben alle Welt herum wie einen Ball.
Ich denke ihres Krieges nie mehr Ende werde.
Böse Gierigkeit
Schlingt um alles sich hin seit Evas Zeit,
Verwirrt ein jedes Herz und jedes Reich.
Weder Herz noch Zungen
Meinen nichts noch lieben nichts, als Falsch und Änderungen.
Liebe und Rechtsspruch sind an Trug sich gleich.
Gottfried von Straßburg
Beginn des Endes
Ein Punkt nur ist es, kaum ein Schmerz,
Nur ein Gefühl, empfunden eben;
Und dennoch spricht es stets darein,
Und dennoch stört es dich zu leben.
Wenn du es andern klagen willst,
so kannst du's nicht in Worte fassen.
Du sagst dir selber: »Es ist nichts!«
Und dennoch will es dich nicht lassen.
So seltsam fremd wird dir die Welt,
Und leis verläßt dich alles Hoffen,
Bis du es endlich, endlich weißt,
Daß dich des Todes Pfeil getroffen.
Theodor Storm
Die Stunde schlug
Die Stunde schlug, und deine Hand
Liegt zitternd in der meinen,
An meine Lippen streiften schon
Mit scheuem Druck die deinen.
Es zuckten aus dem vollen Kelch
Elektrisch schon die Funken;
O fasse Mut und fliehe nicht,
Bevor wir ganz getrunken!
Die Lippen, die mich so berührt,
Sind nicht mehr deine eignen;
Sie können doch, solang du lebst,
Die meinen nicht verleugnen.
Die Lippen, die sich so berührt,
Sind rettungslos gefangen;
Spät oder früh, sie müssen doch
Sich tödlich...
Theodor Storm
Elisabeth
Meine Mutter hat's gewollt,
Den andern ich nehmen sollt;
Was ich zuvor besessen,
Mein Herz sollt es vergessen;
Das hat es nicht gewollt.
Meine Mutter klag ich an,
Sie hat nicht wohlgetan;
Was sonst in Ehren stünde,
Nun ist es worden Sünde.
Was fang ich an?
Für all mein Stolz und Freud
Gewonnen hab ich Leid.
Ach, wär das das nicht geschehen,
Ach, könnt ich betteln gehen
Über die braune Heid.
Theodor Storm
Wir wollen uns immer die Hände halten
Wir wollen uns immer die Hände halten
Damit unsre Seelen nicht in den kalten,
Notvollen Nächten einsam erfrieren.
Wir wollen uns immer tiefer finden,
Damit wir uns nicht wie die armen Blinden
Im schwarzen Walde traurig verirren.
Wir wollen uns immer die Hände halten,
Damit wir uns nicht zu tief in die Falten
Des unendlichen Lebens verlieren.
Francisca Stoecklin
Letzte Wonne
Du kennst die letzte Wonne nicht,
O Weib, und wirst sie nie ergründen:
In deinen Augen glüht ein Licht,
Das will nicht wärmen, will nur zünden!
Wohl ist es süß, wenn ohne Laut,
Wenn glutverzehrt von Qual und Hoffen,
Ein Menschenaug' in deines schaut,
Vom Blitzstrahl deines Blicks getroffen;
Doch weißt du nicht, wie süß das ist:
In jener Liebe sich ergeben,
Die liebend ihrer selbst vergißt
Und wähnt, ein Wunder zu erleben !
Die selig sich gestehen kann:
Ich schmied' aus Schönheit...
Karl Stieler
Zufriedenheit
Mein Herz, gib dich zufrieden!
Und fiel dein Los auch schlicht,
Dir war doch Sonne beschieden
Und Tausenden schien sie nicht!
Dir blühn gesunde Sinne,
Du schaffst in goldnem Licht;
Du wurdest Treue inne,
Und Tausenden wurden's nicht!
Und was du ja mußt klagen,
Wird selber zum Gedicht;
Du kannst deine Schmerzen sagen,
Und Tausende können's nicht.
Karl Stieler
Stets wandeln wir am Abgrund dicht
Stets wandeln wir am Abgrund dicht,
Wo Tief und Dunkel schrecken,
Aus dem ein Tod und letzt' Gericht
Die Drachenhälse recken!
Wir wandeln, ahnen nicht Gefahr,
So sorglos wie die Kinder…
Da strauchelst du und gleitest gar
Und gleitest ab geschwinder!
Jetzt gilt's! Ist keine Latsche da,
An der du dich kannst halten?
Umfassen nicht, dem Sturze nah,
Dich rettende Gestalten?…
Humor, so heißt die Latsche schlicht
Gleich Göttern hochgeboren –
Erhascht du sie im...
Carl Spitzweg