Immer Zitate (Seite 86)
Alte Uhr
Ist eine alte Uhr in Prag,
Verrostet das Werk und der Stundenschlag,
Verstummt ihre Stimme im Munde;
Zeigt immer die gleiche Stunde.
Doch täglich einmal, so tot sie sei,
Schleicht zögernd die Zeit an der Uhr vorbei,
Dann zeigt sie die richtige Stunde,
Wie die Uhren all' in der Runde.
Es ist kein Werk so abgetan,
Kommt doch einmal seine Zeit heran,
Daß es sein Wirken bekunde,
Kommt doch seine richtige Stunde…
Hugo Salus
Vorletzte Stunde
Jede Stunde ist Tochter und Mutter zugleich
Und macht uns arm, und macht uns reich.
Und immer öffn' ich von neuem die Tür:
"Tritt ein, du Stunde, was bringst du mir?"
Sie schaut mich an: "Mich hab' ich gebracht;
So hab' ich dein Leben reicher gemacht." –
"Und ärmer!" schrei ich. Sie nickt und geht.
Die Tochter schon auf der Schwelle steht.
"Du, deine Mutter an mich vergaß!
Bring du mir endlich" … Ernst fragt sie: "Was?"
– "Das Leben!" fleh' ich. Da geht sie...
Hugo Salus
Stilphysiognomik
Wer nie haut grade Hiebe,
wes Wort' und Sätze schleichen
wie spürend schlaue Diebe,
und immer seitab streichen,
Wer niemals wagt zu sagen:
"so ist es" und: "das soll sein",
wer ausweicht schlichten Fragen,
stets will der Vorsicht voll sein,
Wer spricht: "gewisse Leute",
und: "dürfte, möchte, könnte",
statt daß er sich nicht scheute
und uns Gewißheit gönnte,
Wer nie den Punkt will nennen
stets eingehüllt in Duft ist –
glaubt mir, daß der zu kennen
als Schwachkopf oder Schuft ist.
Friedrich von Sallet
Ins stille Land!
Wer leitet uns hinüber?
Schon wölkt sich uns der Abendhimmel trüber,
Und immer trümmervoller wird der Strand.
Wer leitet uns mit sanfter Hand
Hinüber, ach! hinüber
Ins stille Land?
Ins stille Land!
Zu euch, ihr freien Räume
Für die Veredlung! Zarte Morgenträume
Der schönen Seelen! künft'gen Daseins Pfand.
Wer treu des Lebens Kampf bestand,
Trägt seiner Hoffnung Keime
Ins stille Land.
Ach Land! ach Land!
Für alle Sturmbedrohten
Der mildeste von unsers Schicksals Boten
Winkt...
Johann Gaudenz Freiherr von Salis-Seewis
Klarheit
Oft ist es mir, als säh' ich niedergleiten
Die Schleier still und leise von den Dingen,
Mein Auge kann das weite All durchdringen
Und blickt zurück zum Urquell aller Zeiten.
Ich sehe, wie die Fäden sich bereiten,
Wie sie sich knüpfen, kreuzen und verschlingen –
Und so die Tage immer näher bringen,
Die zu den unsren ernst herüberleiten.
Dann fühl' ich mit dem Fernsten mich verwoben
Und in mir leben jedes Einzelleben,
Das hier geatmet und geblickt nach oben.
Mein eignes Ich, mit...
Ferdinand von Saar
Der Säulenheilige
Ich kenne einen Menschen, der als Anachoret,
Wie einst die heil'gen Büßer, auf hoher Säule steht.
Im Sommer brennt hernieden versengend heißer Strahl,
Im Winter muß er dulden des Frostes starre Qual.
Der Glieder freies Regen, es ist ihm, ach, verwehrt;
Von ferne muß er schauen, was tief sein Herz begehrt.
Stumm geht die Welt vorüber und reicht ihm kühl hinan,
Was seine Pein verlängern, doch sie nicht lindern kann.
So steht er viele Jahre – gern stürzt' er sich hinab,
Doch...
Ferdinand von Saar
Sonntag
Wie lieb' ich es, an Sonntagnachmittagen
Allein zu sitzen im vertrauten Zimmer;
Durchs Fenster bricht der Sonne heller Schimmer,
Das Buch vergoldend, das ich aufgeschlagen.
Die Straßen; es rollen keine Wagen;
Des Marktes Lärm verstummt, als wär's auf immer,
Und all des Sonntagsstaates bunter Flimmer,
Er ward hinaus in Wald Flur getragen.
Verlassen fühlt sich, wer zurückgeblieben,
Und manches schöne Auge blickt verdrossen,
Und manche Wünsche unerfüllt zerstieben.
Es ruht das Leben, wie...
Ferdinand von Saar
Ostern
Ja, der Winter ging zur Neige,
holder Frühling kommt herbei,
Lieblich schwanken Birkenzweige,
und es glänzt das rote Ei.
Schimmernd wehn die Kirchenfahnen
bei der Glocken Feierklang,
und auf oft betretnen Bahnen
nimmt der Umzug seinen Gang.
Nach dem dumpfen Grabchorale
tönt das Auferstehungslied,
und empor im Himmelsstrahle
schwebt er, der am Kreuz verschied.
So zum schönsten der Symbole
wird das frohe Osterfest,
daß der Mensch sich Glauben hole,
wenn ihn Mut und Kraft...
Ferdinand von Saar
Wo Schönheit ist, da ist auch Häßlichkeit.
Wenn etwas richtig ist, ist etwas anderes falsch.
Wissen und Unwissenheit hängen voneinander ab.
Verblendung und Erleuchtung bedingen einander.
So war es schon immer.
Wie könnte es jetzt anders sein?
Das eine loswerden, das andere halten wollen -
das muß ein lächerliches Schauspiel abgeben.
Auch wenn du sagts, alles sei wunderbar,
du mußt dich doch mit dem sich stets Wandelnden abgeben.
Daigu Ryôkan
Der Alkohol
Der Alkohol ob Bier, ob Wein,
er wird geschluckt, immer hinein,
dass er vom Geiste nimmt Besitz,
die Augen groß, die Nase spitz,
ich bin fast blau, die Welt ist schön,
dann woll'n wir mal nach Hause geh'n.
Auch harte Drinks sind voller Tücke,
der Kopf ist leer, es klafft ne Lücke,
ach noch ein Bier, das geht wohl rein,
ein kleines noch, dass muss noch sein,
es rumort im Bauch und Geiste,
der Mund geht auf, raus kommt das meiste.
Nun ist's genug, jetzt bin ich blank,
die...
Heinz Bernhard Ruprecht
Gedächtnisschwund
Politiker sind sonderbar,
denn kaum im Amt, da wird es klar,
hat man, nach eigenem Ermessen,
zuvor Gesagtes schnell vergessen
und leidet stark, aus welchem Grund
auch immer, an Gedächtnisschwund.
Dies Phänomen ist weltbekannt,
doch kaum sind sie im Ruhestand,
da stellt man fest, dass ungeniert,
Gedächtnisschwund sich selbst kuriert,
sie schreiben dann, ganz ungezwungen,
politische Erinnerungen.
Edmund Ruhenstroth
Wiegenlied
Wenn man ab und zu was dichtet,
glaubt man oft, man sei verpflichtet
auch ein Wiegenlied zu schreiben,
um die Vielfalt zu betreiben.
Denn es spiegeln solche Lieder
doch ein Stück der Seele wieder,
darum konnte ich's nicht lassen,
auch ein solches zu verfassen.
Fünfzehn Jahre sind vergangen,
seit ich damit angefangen,
doch das Lied, wie man's auch wendet,
ist bis heute nicht vollendet.
Kaum dass ich so nach Belieben,
ein paar Worte aufgeschrieben,
die mein Schlummerlied...
Edmund Ruhenstroth
Das Testament
Es saß beim Rechtsanwalte Mahler
ein bundesdeutscher Steuerzahler
zwecks Ordnung seiner Siebensachen
und um sein Testament zu machen.
Er fühlte sich schon sehr marode
und wünschte, daß nach seinem Tode
und Abberufung von der Erde,
sein Leichnam eingeäschert werde.
Die Asche sei zu treuen Händen
gleich dem Finanzamt einzusenden
mit einem Brief, wie er zitierte
und den er dann, wie folgt, diktierte:
Ihr wart mir immer wert und teuer,
denn was ich hatte, fraß die Steuer,
ihr halft...
Edmund Ruhenstroth