Dem Leben Zitate (Seite 61)
Nun wachet! Uns geht auf der Tag,
an dem wohl Angst ergreifen mag
jeglichen Christen, Juden oder Heiden.
Wir haben der Zeichen viel gesehen,
dran wir sein Kommen wohl erspähen,
wie uns die Schrift mit Wahrheit läßt bescheiden.
Die Sonne hat ihren Schein verkehret,
Untreue ihren Samen ausgeleeret
allenthalben auf den Wegen:
Der Vater bei dem Kind Untreue findet,
der Bruder seinen Bruder belüget,
geistlich Leben in Kutten trüget,
das uns führen sollte zu Himmelssegen:
Gewalt geht auf, Recht vor...
Mary Adams Ward
Wein und Brot
Solche Düfte sind mein Leben,
Die verscheuchen all mein Leid:
Blühen auf dem Berg die Reben,
Blüht im Thale das Getreid.
Donnern werden bald die Tennen,
Bald die Mühlen rauschend gehn,
Und wenn die sich müde rennen,
Werden sich die Keltern dehn.
Gute Wirtin vieler Zecher!
So gefällt mir's flink und frisch;
Kommst du mit dem Wein im Becher,
Liegt das Brot schon auf den Tisch.
Ludwig Uhland
Die Wahrheit ist des Himmels erstes Kind;
Nur sie ist schön, in nackten Reizen schön
Wie Eva, eh' die Schlange sie belog.
Wer sie mit Einfalt sucht, mit Inbrunst liebt,
Den tränket sie, dem öffnet sie den Blick,
Den hebt sie über jedes Leiden, schenkt
Geduld im Leben und im Tode Ruh',
Der Dämmrung Ruhe vor dem Morgenrot.
Nur Einfalt, keusche Einfalt findet sie,
Einfalt, die im reinen Herzen nur
Mit lautrem Öl der Inbrunst Flammen nährt.
Friedrich Leopold Graf zu Stolberg-Stolberg
Doch ohne meinen Vater
vielleicht
wärst du manchmal ein bißchen stolz gewesen
möglicherweise
hättest du es lieben können
dieses Kind
mit den fröhlichen Sommersprossen
mit den blonden Haaren
der niemals endenden Liebessehnsucht im Herzen
mit dem vertrauensseligen Lachen
dem unerschütterlichen Glauben an das Leben
bestimmt
hättest du dieses Mädchen
ein bißchen gern haben können
aber du gabst ihm nie eine Chance
sicher auch
aus Angst, es in dein Herz zu schließen
Aber was soll's?!!
Töchter...
Ute Maria Seemann
Das Wunder im Park
Ein dumpfer Mensch saß unter Bäumen
und nährte Bitterkeit und Groll,
statt seine Galle fortzuräumen
und froh zu atmen, wie man soll.
Da kam ein Blinder, seltsam leise
hintastend im Bereich des Lichts,
und pfiff den Vögeln, Spatz und Meise,
und stand verzauberten Gesichts.
Wie Sankt Antonius streut' er Krumen,
entrückt und selig ganz und gar;
es schien, er reichte selbst den Blumen
und Baum und Himmel etwas dar.
Da war dem Traurigen, er finde
zum erstenmal des Lebens...
Peter Scher
So ist's
Das aber nehmt euch einmal zu Verstande:
Daß einer nie sein Höchstes kann vollbringen,
Wenn nicht ein Gott ihm gnädig löst die Schwingen,
Und nicht ein günst'ger Wind ihn treibt vom Strande.
Denn nie gedeiht der Baum in dumpfem Sande,
Zu Tod sich flattern muß der Aar in Schlingen –
Und ernstes Tun kann stets nur halb gelingen,
Wenn sich die Mitwelt freut an hohlem Tande.
Ja, ob auch eigne Kraft und tiefstes Wollen
Die Größe hebt aus den gemeinen Gleisen:
Des Lebens Mächten muß ein...
Ferdinand von Saar
Das Leben magst du wohl vergleichen einem Feste,
Doch nicht zur Freude sind geladen alle Gäste.
Gar manchen, scheint es, lud man nur, um die Beschwerde
Zu übertragen, daß die Lust den andern werde.
Den Esel lud man einst zu diesem Hochzeitsschmause,
Weil es zu tragen Holz und Wasser gab im Hause.
Der Esel dachte stolz, geladen bin ich auch,
Jawohl, beladen mit dem Tragreff und dem Schlauch.
Friedrich Rückert
Wilde Ehe!
Sie leben in ›wilder Ehe‹,
So sagt des Volkes Mund;
Darob schreitet Ach und Wehe
Der Pharisäer Bund!
Ihr Herz ist rein und heilig,
Wie man sie auch verdammt;
Sie habens nur nicht eilig
Mit ihrem Standesamt!
Doch bei dem Paar da drüben,
Das kirchlich einst getraut,
Da schallt es oft von Hieben,
Da tönt das Fluchen laut.
Da zittern Weib und Kinder,
Vom Ehgemahl bedroht:
Sie fürchten von dem Sünder
Fast täglich ihren Tod!
Nun sagt mir, welche Ehe
Von beiden wirklich ›wild‹?
Die auf...
Hermann Roller
Unglücksrabe
So oft ich der alten Nachbarin
In ihrem Shawltuch begegnet bin,
Wenn die Sonne grade recht hell gestrahlt,
Als bekäm sie's heute extra bezahlt –
Dann zeigte die alte Nachbarin
Mit der welken Hand nach dem Himmel hin
Und kniff den Mund so besonders ein,
Als biß sie in etwas Saures hinein,
Und meinte: "Wenn's nur so bleibt!"
So ist's mir im Leben mit Vielen ergangen,
Die wußten mit Freude nichts anzufangen
Und riefen in jeden Sonnenschein
Ihr krächzendes "Wenn's nur so bleibt"...
Anna Ritter
Was ist das Leben, wenn die Ehre fehlt,
Wenn man dem Mann die eig'ne Achtung raubt
Und ihn zum Vorwurf für sich selber macht?
Genommen hast du ihm jedweden Wert,
Des Geistes Würde und der Seele Flug.
Wenn du dem Aar die Schwingen abgebrochen,
Muß er im Staube der Gemeinheit kriechen,
Der von der Erde sich zum Himmel hob.
Max Ring
Der Apfelgarten
Borgeby-Gård
Komm gleich nach dem Sonnenuntergange,
sieh das Abendgrün des Rasengrunds;
ist es nicht, als hätten wir es lange
angesammelt und erspart in uns,
um es jetzt aus Fühlen und Erinnern,
neuer Hoffnung, halbvergessnem Freun,
noch vermischt mit Dunkel aus dem Innern,
in Gedanken vor uns hinzustreun
unter Bäume wie von Dürer, die
das Gewicht von hundert Arbeitstagen
in den überfüllten Früchten tragen,
dienend, voll Geduld, versuchend, wie
das, was alle Maße...
Rainer Maria Rilke
Ich sah dich an
Ich sah dich an. Von fernen Sommertagen
Will sich dem Blick ein deutlich Bild entwirr'n.
Du hast dein Sehnen schwer mit dir getragen –
Nun ward es still um deine müde Stirn.
Du hast begraben Hoffen viel und Glauben,
Baust fern den Märkten dir dein einsam Haus;
Und deine Wünsche ruhn, wie weiße Tauben,
Nach Flug und Sturm in schatt'gen Wipfeln aus.
In deinen schmalen Fingern seltsam Leben,
In ihrem Wirken ein verborgner Sinn,
Als ob aus der Vergangenheit Geweben
Die Fäden...
Rudolf Presber
Augenblick der Jugend
Ich gehe durch die Stadt
und schaue in erwachte Augen
suchend nach dem Glauben
den ich einst in mir gehabt
Vergebens such ich dieses Beben
was sich spiegelt ist synthetisch
gestylt und geometrisch
ich find kein Leben
kein Bewegen
Mich wärmt der Schein nicht
dieser Lichter
neonkühl und stereotyp
wo das Herz das brennt, das liebt?
Und ich spüre, daß in mir erlischt
der Augenblick der Jugend
in dem Schweigen
glanzloser Gesichter
Manfred Poisel