Leben Leben Zitate (Seite 191)
Nacht in der Seele
Die Nacht wälzt die Talhänge hinab
und wirft sie in drohendes Dunkel.
Noch zögert ihr Ausgreifen,
doch dann umzieht die Stadt
ein Belagerungsring aus Schatten.
Sie überfällt die Mauern,
läßt alles Leben
ohne Ausweg sterben.
Da blinken an den Höhen Lichterketten auf,
die den verzweifelten Augen
Fluchtwege öffnen.
Noch einmal entkommen,
aus einem tödlichen Schicksal,
sucht sich die Seele neue Hoffnung…
Elmar Kupke
Ich kann als Wandrer durch die Welt nur treiben,
Ich fand ja keinen Freund, es ward schon Abend.
Nach meinem Sinn nur lesen oder schreiben –
Ich fand ja keinen Freund, es ward schon Abend.
Die Hände hab’ ich vors Gesicht geschlagen,
Die Tränen fließen stets bei meinen Klagen,
Die Fehler sehe ich, die in mir lagen,
Ich fand ja keinen Freund, es ward schon Abend.
Das Fundament der Welt ist wüst, o Not!
Das Korn ist aufgebraucht, es gibt kein Brot,
Weh diesem Leben, das hingeht zum Tod!
Ich fand...
Kul Himmet
Nachtgruß
Vor meinem Fenster dämmert
Das trübe Mondenlicht;
auf meinem Tischlein hämmert
Die Uhr und rastet nicht.
Die stille Nacht durchschallet
Ein einsam hast'ger Gang,
Der wiederum verhallet
Die leere Straß' entlang.
Auf Traumesschwingen heben
Sich die Gedanken mir,
Und heimlich, o mein Leben,
Träum' ich mich hin zu dir.
Franz Kugler
Nun ist mit seinem lauten Treiben
Der heiße Tag zur Ruh gebracht,
Und nur die kühlen Brunnen bleiben
Einsam geschäftig über Nacht.
Und wie sich tiefgeheime Kunde
Im Mondendämmer offenbart,
So steigt aus meines Herzens Grunde
Die Sehnsucht, die mein Leben ward.
Es schläft, was mich am Tag umdüstert,
Was mich verwirrt, bedrängt, gequält :
Mir ist, als ob dein Mund mir flüstert,
Dein Hauch dem meinen sich vermählt.
Franz Kugler
Dem Rade gleich
Entrollt des Lebens Lust! Wohlan, genießet
Und grübelt nicht! Entnehmt mit Kindessinn
Der Mutterhand, die lächelt ihn euch beut,
Der klaren Stunde Kelch, eh' er verrinnt!
Ergreift mit Kraft, bevor er euch entflieht,
den Augenblick und schmückt ihn mit der That!
Friedrich Adolf Krummacher
Überall Leid
Allüberall, wohin ich ging und kam,
Fand ich ein Weh; so einsam lag kein Land,
Daß nicht der Weg zu ihm die Sorge fand,
Und wo kein Baum gedieh, gedieh noch Gram;
Und magst du ziehn nach Süd und Nord,
Gen Ost und West, nach allen Winden,
Du wirst doch stets dasselbe Lösungswort,
Die Arbeit und des Lebens Mühsal finden.
Dasselbe Kämpfen um dein täglich Brot,
Das sich nicht lohnt, so schwer verdient zu sein,
Erwartet dich am Hudson wie am Rhein;
Ihr Bürgerrecht hat überall die...
Konrad Krez
Wann fängt Weihnachten an?
Wenn der Schwache
dem Starken die Schwäche vergibt,
wenn der Starke
die Kräfte des Schwachen liebt,
wenn der Habenichts teilt,
wenn der Laute bei dem Stummen verweilt
und begreift
was der Stumme ihm sagen will,
wenn das Leise laut wird
und das Laute still,
wenn das Bedeutungsvolle bedeutungslos,
das scheinbar Unwichtige
wichtig und groß,
wenn mitten im Dunkel
ein winzig Licht Geborgenheit,
helles Leben verspricht,
und du zögerst nicht,
sondern du gehst so wie du...
Rolf Krenzer
Vergleichende Erotik
So wird das Wunderbild der Venus fertig:
Ich nehme hier ein Aug, dort einen Mund,
hier eine Nase, dort der Brauen Rund.
Es wird Vergangenes mir gegenwärtig.
Hier weht ein Duft, der längst verweht und weit,
hier klingt ein Ton, der längst im Grab verklungen.
Und leben wird durch meine Lebenszeit
das Venusbild, das meinem Kopf entsprungen.
Karl Kraus
Rätsel
Bald ist's von dieser, bald von jener Sorte:
dort gilt's der Silbe, hier gilt es dem Worte.
Leicht läßt es dich in alle Ferne schweifen,
wiewohl grad nur das Nächste zu ergreifen.
Bescheiden steht's und wartet in der Ecke,
bis du den Sinn holst aus dem Wortverstecke.
Wenn endlich dir die Lösung glücken soll,
sei zu bedenken dieses dir gegeben:
gelöst wär' nur die eine eben,
jedoch fast jedes Ding im Leben,
es bleibt dir leider dessen voll.
Ja mehr als das – ich wag es auszusprechen
und...
Karl Kraus
Nächtliche Stunde
Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
da ich's ersinne, bedenke und wende,
und diese Nacht geht schon zu Ende.
Draußen ein Vogel sagt: es ist Tag.
Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
da ich's ersinne, bedenke und wende,
und dieser Winter geht schon zu Ende.
Draußen ein Vogel sagt: es ist Frühling.
Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
da ich's ersinne, bedenke und wende,
und dieses Leben geht schon zu Ende.
Draußen ein Vogel sagt: es ist Tod.
Karl Kraus
Neunter neunter neunundneunzig – neun Uhr neunundneunzig
oder
9.9.99, 9 Uhr 99 (10 Uhr 39)
Ein Mensch beschließt an diesem Tag,
den Gruß an die Kollegenschar
Am neunten neunten neunzigneun,
das dürfte die Kollegen freu'n.
Denn dieser Tag, das zeigt das Leben,
den hat es so noch nie gegeben.
Und auch in Zukunft wird’s so sein,
der Tag ist einsam, und allein.
Der Mensch jedoch stellt ihm zur Seite,
noch eine neun und neunundneunzig,
denn erst die Uhrzeit macht's gewiß,
der Tag dann erst...
Wolfgang (WoKo) Kownatka