Jahr Zitate (Seite 4)
Der König
Der König ist sechzehn Jahre alt.
Sechzehn Jahre und schon der Staat.
Er schaut, wie aus einem Hinterhalt,
Vorbei an den Greisen vom Rat
In den Saal hinein und irgendwohin
Und fühlt vielleicht nur dies:
An dem schmalen langen harten Kinn
Die kalte Kette vom Vlies.
Das Todesurteil vor ihm bleibt
Lang ohne Namenszug.
Und sie denken: Wie er sich quält.
Sie wüßten, kennten sie ihn genug,
Daß er nur langsam bis siebzig zählt,
Eh' er es unterschreibt.
Rainer Maria Rilke
Gepriesen sei der Tag, der Mond, das Jahr,
die Jahr- und Tageszeit, der Augenblick,
das schöne Land, der Ort, da mein Geschick
sich unterwarf ein schönes Augenpaar.
Gepriesen sei die erste süße Qual
der Strahlen ihres Blicks, die mich bezwangen,
die Pfeile Amors, die mein Herz durchdrangen,
die Herzenswunden tief und ohne Zahl.
Gepriesen sei’n die Stimmen, die im Leeren
verhallten, nach ihr rufend, dort und hier,
das Seufzen, Weinen, Bitten und Begehren,
gepriesen seien Feder und Papier,
die...
Francesco Petrarca
Zur Erklärung
Du schiltst, daß ich mein Leben verträumt,
Statt froh es zu genießen?
Daß ich die Blumen zu pflücken versäumt,
Die rings am Wege sprießen?
So sprechend dünkst du dich klug, wie klug!
Daß Bessres du erkoren,
Indess an Wahn und Täuschung und Trug
Ich Jahr um Jahr verloren.
Glaub mir! es hielt mich des Traumes Macht
So ehern nicht umschlungen,
Daß ich nicht manchmal plötzlich erwacht
Aus seinen Dämmerungen.
Doch sieh! da schien mir all euer Glück
Nur Glitzern flücht'gen...
Betty Paoli
Frage
Wie tief die Wipfel heut erschauern!
Wie Schicksal greift es in mein Herz
und überwältigt mich, zu trauern,
und reift zu altem neuen Schmerz.
Schwermütige Gemälde steigen
zu klagender Musik empor,
und wie sie Jahr um Jahr mir zeigen,
erkenn ich, was ich schon verlor.
Zuletzt in mich zurückgetrieben –
was bleibt mir nun? wem darf ich traun?
Wer wird mein stilles Tagwerk lieben?
Was bürgt mir,...
Christian Morgenstern
Bedenke Freund, was wir zusammen sprachen,
War's wert, daß wir den Bann des Schweigens brachen,
Um solche Nichtigkeiten auszutauschen?
So schwätzen wohl zwei Vögel miteinander,
Derweil in unablässigem Gewander
Des Stromes strenge Wogen meerwärts rauschen.
Erwacht in dir nicht ein Gefühl der Leere,
Erwägst du, wie so auftut Jahre, Jahre
Nichts als Geschwätz aus dir sich und dem andern,
Indessen nach der Gottheit Schoß und Meere
Der Geistesweisheit sternenspiegelklare
Gewässer ruhlos und...
Christian Morgenstern
Mein Jahr
Nicht vom letzten Schlittengleise
Bis zum neuen Flockentraum
Zähl' ich auf der Lebensreise
Den erfüllten Jahresraum.
Nicht vom ersten frischen Singen,
Das im Wald geboren ist,
Bis die Zweige wieder klingen,
Dauert mir die Jahresfrist.
Von der Kelter nicht zur Kelter
Dreht sich mir des Jahres Schwung,
Nein, in Flammen werd' ich älter
Und in Flammen wieder jung.
Von dem ersten Blitze heuer,
Der aus dunkler Wolke sprang,
Bis zu neuem Himmelsfeuer
Rechn' ich meinen Jahresgang.
Conrad Ferdinand Meyer
Abendlied
Rose Marie, Rose Marie,
Sieben Jahre mein Herz nach dir schrie,
Rose Marie, Rose Marie,
Aber du hörtest es nie.
Jedwede Nacht, jedwede Nacht,
Hat mir im Traume dein Bild zugelacht,
Kam dann der Tag, kam dann der Tag,
Wieder alleine ich lag.
Jetzt bin ich alt, jetzt bin ich alt,
Aber mein Herz ist noch immer nicht kalt,
Schläft wohl schon bald, schläft wohl schon bald,
Doch bis zuletzt es noch hallt:
Rose Marie, Rose Marie,
Sieben Jahre mein Herz nach dir schrie,
Rose Marie, Rose...
Hermann Löns
Der Jungfernkranz
Und daß ich eine Jungfer bin
und habe keinen Mann
und noch nicht weiß, was Liebe ist,
das steht mir wenig an.
Was hilft mir denn mein Jungfernkranz,
hab ich ihn ganz allein,
ich trag ihn zwanzig Jahre lang,
bald wird verwelkt er sein.
Verwelken aber soll er nicht
vor Sonne und vor Wind,
ich häng ihn abends in den Tau,
bis daß ihn einer findt.
Und wer ihn findt, das sag ich frei,
ihn auch behalten kann;
ich trug ihn zwanzig Jahre lang,
mir liegt nichts mehr daran.
Hermann Löns
Zum Jahreswechsel
Ernst war das Jahr, das nun geendet,
ernst ist das Jahr, das nun beginnt.
Daß sich die Welt zum beß'ren wendet
sei, Mensch, zum Besseren gesinnt.
Bedenk: das Schicksal aller Welt
ist mit in deine Macht gestellt,
und auch das Kleinste in der Zeit
ist Bild und Keim der Ewigkeit.
Friedrich Freiherr von Logau
Winterzeit
Ist das Jahr denn schon vorüber?
Gestern war noch Sommerzeit.
Heute tönen Weihnachtslieder
und der Wald ist tief verschneit.
Den See bedeckt ein Tuch aus Eis
und klirrend kalt ist manche Nacht.
Wie Zucker hat der weiße Reif
sich auf den Bäumen festgemacht.
Natur wird still, legt sich zur Ruh,
will frische Kraft gewinnen.
Das Jahr neigt sich dem Ende zu,
ein Neues wird beginnen.
Poldi Lembcke
So werd ich manchmal irre an der Stunde
So werd ich manchmal irre an der Stunde,
An Tag und Jahr, ach, an der ganzen Zeit!
Sie gärt, sie tost, doch mitten auf dem Grunde
Ist es so still, so kalt und zugeschneit!
Habt ihr euch auf ein neues Jahr gefreut,
Die Zukunft preisend mit beredtem Munde?
Es rollt heran und schleudert weit, o weit!
Zurück euch, ihr versinkt im alten Schlunde!
O hätt den Hammer ich des starken Thor,
Auf das Jahrhundert einen Schlag zu führen,
Ich schlüg sein...
Gottfried Keller
Wenn dann vorbei des Frühlings Blüte schwindet,
So ist der Sommer da, der um das Jahr sich windet.
Und wie der Bach das Tal hinuntergleitet,
So ist der Berge Pracht darum verbreitet.
Daß sich das Feld mit Pracht am meisten zeiget,
Ist, wie der Tag, der sich zum Abend neiget;
Wie so das Jahr verweilt, so sind des Sommers Stunden
Und Bilder der Natur dem Menschen oft verschwunden.
Johann Christian Friedrich Hölderlin
Waldstimme
Wie deine grüngoldenen Augen funkeln,
Wald, du moosiger Träumer!
Wie so versonnen deine Gedanken dunkeln,
Saftstrotzender Tagesverträumer,
Einsiedel, schwer vom Leben!
Über der Wipfel Hin- und Wiederschweben:
Wie's Atem holt
Und näher kommt
Und braust,
Und weiter zieht
Und stille wird
Und saust!
Über der Wipfel Hin- und Wiederschweben
Hoch droben steht ein ernster Ton,
Dem lauschen tausend Jahre schon,
Und werden tausend Jahre lauschen.
Und immer dieses starke, donnerdunkle Rauschen.
Peter Hille
Waldesstimme
Wie deine gründgoldenen Augen funkeln,
Wald, du mosiger Träumer!
Wie deine Gedanken dunkeln,
Einsiedel, schwer von Leben,
Saftseufzender Tagesverträumer!
Über der Wipfel Hin- und Wiederschweben
Wie's Atem holt und näher braust.
Und weiter zieht - und stille wird - und saust.
Über der Wipfel Hin- und Wiederschweben
Hoch droben steht ein ernster Ton,
Dem lauschten tausend Jahre schon,
Und werden tausen Jahre lauschen ...
Und immer dieses starke, donnerdunkle Rauschen.
Peter Hille
Letzte Wache
Wie dunkel sind deine Schläfen.
Und deine Hände so schwer.
Bist du schon weit von dannen,
Und hörst mich nicht mehr.
Unter dem flackernden Lichte
Bist du so traurig und alt,
Und deine Lippen sind grausam
In ewiger Starre gekrallt.
Morgen schon ist hier das Schweigen
Und vielleicht in der Luft
Noch das Rascheln von Kränzen
Und ein verwesender Duft.
Aber die Nächte werden
Leerer nun, Jahr um Jahr.
Hier wo dein Haupt lag, und leise
Immer dein Atem war.
Georg Heym