Heute Zitate (Seite 35)
Winterzeit
Ist das Jahr denn schon vorüber?
Gestern war noch Sommerzeit.
Heute tönen Weihnachtslieder
und der Wald ist tief verschneit.
Den See bedeckt ein Tuch aus Eis
und klirrend kalt ist manche Nacht.
Wie Zucker hat der weiße Reif
sich auf den Bäumen festgemacht.
Natur wird still, legt sich zur Ruh,
will frische Kraft gewinnen.
Das Jahr neigt sich dem Ende zu,
ein Neues wird beginnen.
Poldi Lembcke
Ich habe drei Schätze,
Die ich hüte und bewahre.
Der erste ist Mitgefühl.
Der zweite ist Sparsamkeit.
Der dritte ist Demut.
Aus Mitgefühl erwächst Mut.
Aus Sparsamkeit erwächst die Möglichkeit,
Großzügig zu sein.
Aus Demut erwächst verantwortliche Führung.
Heute jedoch haben die Menschen
Das Mitgefühl abgelegt,
Um kühn zu sein.
Sie haben die Sparsamkeit aufgegeben,
Um große Verschwender zu werden.
Sie haben die Demut verworfen,
Um selbst an erster Stelle zu stehen.
Das ist die Straße des Todes.
Laotse
Ein weicher Wind von Mai und Duft getragen,
Sinkt übers müde Land.
Mein offnes Fenster fängt ein Finkenschlagen,
Ein Sehnsuchtsruf, ein fernes Glockenfragen, –
Am Abendhimmel noch ein zartes Band.
Wie ist die Erde heut so lilienmilde,
Voll Güte unerschöpflich tief.
Ich steh vor ihrem wundersamen Bilde,
Vor dem Madonnenbild verzückt, der Wilde
Der Träumer, den sie zum Erstaunen rief.
Ioannis Kondylakis
Verträumte Jugend
Mir liegt ein Lied voll Leide
schon lang, so lang im Sinn.
Über die träumende Heide
trug ich's erst leise hin.
Weit in schlafende Wälder
schleppt ich sein schluchzendes Herz;
über weiße Winterfelder
wehte wie Wind sein Schmerz.
Heut soll sein Klagen gehen
hinaus mit klingendem Schrei;
Nie hab ich die Jugend gesehen!
Nun ging sie ewig vorbei.
Karl Ernst Knodt
An der Wiege
Schlummre!
Schlummere und träume von kommender Zeit,
Die sich dir bald muß entfalten,
Träume, mein Kind, von Freud' und Leid,
Träume von lieben Gestalten.
Mögen auch viele dir kommen und geh'n,
Müssen dir neue doch wieder ersteh'n.
Bleibe nur fein geduldig.
Schlummre!
Schlummere und träume von Frühlingsgewalt,
Schau all das Blühen und Werden;
Horch, wie im Hain der Vogelsang schallt!
Liebe im Himmel, auf Erden.
Heut zieht's vorüber und kann dich nicht kümmern,
Doch wird dein...
Ernst August Friedrich Klingemann
Rückblick
Die Zeit, in der wir heute leben,
unser jetziges Soeben,
das angebrochene Jahrtausend,
hektisch ist es, laut und brausend –
und doch…
Rinderwahn und PISA-Pleiten,
Vogelpest und Sturmgezeiten
begleiten unsere Gegenwart,
die nicht mit saurem Regen spart –
und doch…
Dauer-Staus auf Autoreisen,
Steuerlast bei höchsten Preisen,
Terror-Ängste, Drogen-Dealer,
AIDS-Gefahr, Falschgeldspieler –
und doch…
Am Ende ergibt sich
die Rente mit siebzig,
weil wir alle bescheiden
an kranken Kassen...
Klaus Klages
Ich geh zur Bank und sage Dank!
Holt meine Aktien aus dem Schrank,
rückt meine Wertpapiere raus,
Ich nehm' die Dinger mit nach Haus
und falte sie heut Nacht zu Drachen,
als Nachtfalter will ich noch einmal lachen
und morgen früh, nach dem Erwachen,
häng ich die Drachen in den Wind,
so schön, wie sie gefaltet sind –
und wo die Aktien sonst auch stehn:
Ich will sie nochmals steigen sehn!
Klaus Klages
Dankbares Leben
Wie schön, wie schön ist dieses kurze Leben,
Wenn es eröffnet alle seine Quellen!
Die Tage gleichen klaren Silberwellen,
Die sich mit Macht zu überholen streben.
Was gestern freudig mocht' das Herz erheben,
wir müssen's lächelnd heute rückwärts stellen;
Wenn die Erfahrungen des Geistes schwellen,
Erlebnisse gleich Blumen sie durchweben.
So mag man breiter stets den Strom erschauen,
auch tiefer mählich sehn den Grund wir winken
Und lernen täglich mehr der Flut vertrauen.
Nun...
Gottfried Keller
Damit sie kommen
Eine Kerze genügt. Ihr Licht, das matte,
fügt sich besser, schmeichelt mehr,
wenn sie kommen, die Schatten, die Schatten der Liebe.
Eine Kerze genügt. Das Zimmer sei heut' abend
ohne helles Licht. Tief in Träumerei versunken,
voll Empfänglichkeit und bei schwachem Licht –
so in Träumerei versunken gebe ich mich Gaukelbildern hin,
damit sie kommen, die Schatten, die Schatten der Liebe
Konstantinos Petrou Kavafis
Vorschneller Schwur
Schwor ein junges Mädchen:
Blumen nie zu tragen
Niemals Wein zu trinken,
Knaben nie zu küssen.
Gestern schwor das Mädchen
Heute schon bereut es:
– Wenn ich Blumen trüge,
Wär' ich doch noch schöner!
Wenn ich Rotwein tränke,
Wär' ich doch noch froher!
Wenn ich den Liebsten küßte,
Wär' mich doch noch wohler! –
Siegfried (Isaac Salomon) Kapper
Wenn abgewaschen von der Zeit
Das Unrecht sein wird und die Gier,
Dann blühen Blumen weit und breit
In nie geseh'ner Pracht und Zier.
Dann sprudelt hell der Schönheit Born
Aus tausend Quellen wundersam,
Und Sangesweisen werden laut,
Wie sie bis heut' kein Ohr vernahm.
Die pflanzen fort und ewig fort
Der Menschheit höchsten Jubelschrei,
Bis alle Erdenmenschen ihn
Mitrufen können: Wir sind frei!
Leopold Jacoby
Großes Kind
Wann ich im Herzen glücklich war,
O Freunde, heute früh.
Ich schnitt mir ab ein Weidenpaar
Und nachher schält' ich sie.
Und warf stillachend Stab um Stab
Weit in den Rauschebach,
Und ging dem flinken Auf und Ab
Zerschäumter Wellen nach.
Und lief auch beinah so geschwind
Als wie mein Ästepaar,
Als wär' ich noch ein kleines Kind,
Nicht große dreißg Jahr.
Das, Freunde, will ich euch gesteh'n,
Gab Früh- und Frohgefühl.
Ich habe Menschen nicht geseh'n,
Drum ward ich Kind im Spiel.
Ludwig Jacobowski