Abendlied
Augen, meine lieben Fensterlein,
Gebt mir schon so lange holden Schein,
Lasset freundlich Bild um Bild herein:
Einmal werdet ihr verdunkelt sein!
Fallen einst die müden Lider zu,
Löscht ihr aus, dann hat die Seele Ruh;
Tastend streift sie ab die Wanderschuh,
Legt sich auch in ihre finstre Truh.
Noch zwei Fünklein sieht sie glimmend stehn
Wie zwei Sternlein, innerlich zu sehn,
Bis sie schwanken und dann auch vergehn,
Wie von eines Falters Flügelwehn.
Doch noch wandl ich auf dem Abendfeld,
Nur dem sinkenden Gestirn gesellt;
Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldnen Überfluß der Welt!
Über den Autor
- Beruf des Autors: Schriftsteller
- Nationalität: schweizerischer
- Geboren: 19. Juli 1819
- Gestorben: 15. Juli 1890
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Aus der Kinderstube
Ich habe mein Kind gestraft,
Nun kommt es nach kurzem Besinnen,
Fällt schluchzend mir um den Hals,
Und seine Thränen rinnen.
Und wie es Bess'rung gelobt,
Küß ich dem kosenden Wichte
Mit freundlich lächelndem Mund
Die Thränen vom Angesichte.
So hab' ich's von Gott gelernt,
So hab' ich's erfahren im Leben:
Ich fehlte und wurde bestraft,
Ich bat – und mir wurde vergeben.
Julius Karl Reinhold Sturm