Lebens Zitate (Seite 203)
Um Mitternacht
Um Mitternacht ging ich, nicht eben gerne,
Klein, kleiner Knabe, jenen Kirchhof hin
Zu Vaters Haus, des Pfarrers; Stern am Sterne,
Sie leuchteten doch alle gar zu schön;
Um Mitternacht.
Wenn ich dann ferner in des Lebens Weite
Zur Liebsten mußte, mußte, weil sie zog,
Gestirn und Nordschein über mir im Streite,
Ich gehend, kommend Seligkeiten sog;
Um Mitternacht.
Bis dann zuletzt des vollen Mondes Helle
So klar und deutlich mir ins Finstre drang,
Auch der Gedanke willig, sinnig,...
Johann Wolfgang von Goethe
Wert des Wortes
Worte sind der Seele Bild –
Nicht ein Bild! Sie sind ein Schatten!
Sagen herbe, deuten mild,
Was wir haben, was wir hatten, –
Was wir hatten, wo ist's hin?
Und was ist's denn, was wir haben? –
Nun, wir sprechen! Rasch im Fliehn
Haschen wir des Lebens Gaben.
Johann Wolfgang von Goethe
Was wird mir jede Stunde so bang? –
Das Leben ist kurz, der Tag ist lang.
Und immer sehnt sich fort das Herz,
Ich weiß nicht recht, ob himmelwärts;
Fort aber will es hin und hin
Und möchte vor sich selber fliehn.
Und fliegt es an der Liebsten Brust,
Da ruht's im Himmel unbewußt;
Der Lebestrudel reißt es fort,
Und immer hängt's an einem Ort;
Was es gewollt, was es verlor,
...
Johann Wolfgang von Goethe
Begünstigte Tiere
Vier Tieren auch verheißen war,
Ins Paradies zu kommen;
Dort leben sie das ew'ge Jahr
Mit Heiligen und Frommen.
Den Vortritt hier ein Esel hat,
Er kommt mit muntren Schritten;
Denn Jesus zur Prophetenstadt
Auf ihm ist eingeritten.
Halb schüchtern kommt ein Wolf sodann,
Dem Mahomet befohlen:
Laß dieses Schaf dem armen Mann!
Dem Reichen magst du's holen.
Nun, immer wedelnd, munter, brav,
Mit seinem Herrn, dem braven,
Das Hündlein, das den Siebenschlaf
So treulich...
Johann Wolfgang von Goethe
Und wer franzet oder britet,
Italienert oder teutschet,
Einer will nur wie der andre,
Was die Eigenliebe heischet.
Denn es ist kein Anerkennen,
Weder vieler noch des einen,
Wenn es nicht am Tage fördert,
Wo man selbst was möchte scheinen.
Morgen habe denn das Rechte
Seine Freunde wohlgesinnet,
Wenn nur heute noch das Schlechte
Vollen Platz und Gunst gewinnet.
...
Johann Wolfgang von Goethe
Das Leben ist ein Gänsespiel:
Je mehr man vorwärts gehet,
Je früher kommt man an das Ziel,
Wo niemand gerne stehet.
Man sagt, die Gänse wären dumm;
O, glaubt mir nicht den Leuten:
Denn eine sieht einmal sich 'rum,
Mich rückwärts zu bedeuten.
Ganz anders ist's in dieser Welt,
Wo alles vorwärts drücket;
Wenn einer stolpert oder fällt,
Keine Seele rückwärts blicket.
Johann Wolfgang von Goethe
Sieh', alle Kraft dringt vorwärts in die Weite,
Zu leben und zu wirken dort;
Dagegen engt und hemmt von jeder Seite
Der Strom der Welt und reißt uns mit sich fort.
In diesem innern Sturm und äußern Streite
Vernimmt der Mensch ein schwer verstanden Wort:
"Von der Gewalt, die alle Wesen bindet,
Befreit der Mensch sich, der sich überwindet!"
Johann Wolfgang von Goethe
Verteilet euch nach allen Regionen
Von diesem heilgen Schmaus!
Begeistert reißt euch durch die nächsten Zonen
Ins All und füllt es aus! [...]
Und bald verlischt ein unbegrenztes Streben
Im selgen Wechselblick.
Und so empfangt, mit Dank, das schönste Leben
Vom All ins All zurück.
Johann Wolfgang von Goethe
Mit einem gemalten Band
Kleine Blumen, kleine Blätter
Streuen mir mit leichter Hand
Gute junge Frühlingsgötter
Tändelnd auf ein luftig Band.
Zephir, nimms auf deine Flügel,
Schlings um meiner Liebsten Kleid;
Und so tritt sie vor den Spiegel
All in ihrer Munterkeit.
Sieht mit Rosen sich umgeben,
Selbst wie eine Rose jung.
Einen Blick, geliebtes Leben!
Und ich bin belohnt genug.
Fühle, was dies Herz empfindet,
Reiche frei mir deine Hand,
Und das Band, das uns verbindet,
Sei kein schwaches...
Johann Wolfgang von Goethe