Das Genie und die Talente
An der höhern Stufe vermißt ihr gewöhnlich die niedre,
Lernt’s doch endlich, sie wird eben mit dieser erkauft.
Daß ein Ganzes werde, muß jeglicher Teil sich bescheiden,
Tritt er einzeln hervor, wuchert er, wie er nur kann,
Und er wird, wo er herrscht, sich freilich stärker erweisen,
Als er tut, wo er dient, aber ein Tor nur vergleicht.
Denkt nur an den Menschen! Ihm gaben alle Geschöpfe
Von dem Ihrigen ab, doch er erreicht auch nicht eins,
Oder hat er die Klaue des Löwen, den Fittich des Vogels?
Selbst das stumpfe Insekt trotzt ihm mit seinem Instinkt.
Dennoch ist er ihr König, und jedes muß sich ihm beugen,
Aber ihm gleicht das Genie, das die Talente vereint.
Aktuelle Zitate
Jede Entelechie nämlich ist ein Stück Ewigkeit, und die paar Jahre, die sie mit dem irdischen Körper verbunden ist, machen sie nicht alt. Ist diese Entelechie geringer Art, so wird sie während ihrer körperlichen Verdüsterung wenig Herrschaft ausüben, vielmehr wird der Körper vorherrschen, und wie er altert, wird sie ihn nicht halten und hindern. Ist aber die Entelechie mächtiger Art, wie es bei allen genialen Naturen der Fall ist, so wird sie, bei ihrer belebenden Durchdringung des Körpers,...
Johann Wolfgang von Goethe
Fürchte dich nicht, sind die Astern auch alt,
streut der Sturm auch den welkenden Wald
in den Gleichmut des Sees -
die Schönheit wächst aus der engen Gestalt;
sie wurde reif, und mit milder Gewalt
zerbricht sie das alte Gefäß.
Sie kommt aus den Bäumen
in mich und in dich,
nicht um zu ruh'n;
der Sommer ward ihr zu feierlich.
Aus vollen Früchten flüchtet sie sich
und steigt aus betäubenden Träumen
arm ins tägliche Tun.
Rainer Maria Rilke